Deutsches Studienzentrum in Venedig

Personen/Projekte aktuell

September 2023

  • Max Liebermann und Italien: Oberitalienische Handlungsräume - Venedig im Fokus
    Dissertationsprojekt

    Kunstgeschichte, Universität Heidelberg, Prof. Dr. Henry Keazor
    Das Dissertationsprojekt „Max Liebermann und Italien. Mobilität, Kulturpolitik und Rezeption“ (AT) widmet sich dem unerforschten Austausch zwischen Liebermann (1847–1935) und Italien im Hinblick auf seine Kunstproduktion, die Ausstellungs- und Sammlungspraxis sowie seine Rezeption.

    Mit Blick auf die oberitalienischen Handlungsräumen sollen Venedig, Triest und Mailand näher betrachtet werden. So gibt ein Skizzenbuch die Eindrücke von Liebermanns erster Italienreise nach Venedig 1878 wieder. 1895 sah das italienische Publikum erstmalig seine Kunst auf der Ersten Internationalen Kunstausstellung der Stadt Venedig. Im Zuge der Zweiten Internationalen Kunstausstellung ging das Gemälde Brabanter Spitzenklöpplerinnen (1893) in die Sammlung der Galleria Internazionale d’Arte Moderna di Venezia ein. Es folgten noch sechs weitere Ausstellungsbeteiligungen. Darüber hinaus bewahrt das Museo Revoltella in Triest das Bildnis des Malerkollegen Umberto Veruda, den Liebermann 1898 in Berlin porträtierte. Das Gemälde Badende Knaben mit Strandwächter (1899) befindet sich heute in der Galleria d’Arte Moderna in Mailand. Die einzige monografische Ausstellung – „Max Liebermann. L’odierna arte del bianco e nero“ – fand 1924 in der Mailänder Galleria Pesaro statt.

    Befürworter seiner Kunst fand Liebermann in Vittorio Pica und in Guido Lodovico Luzzatto. Beide Kunstkritiker schätzten ihn als einen der stärksten Erneuerer der deutschen Malerei und trugen dazu bei, dass Liebermann als einer der bekanntesten deutschen modernen Maler in Italien rezipiert wurde. Bei der Untersuchung der italienischen Berichterstattung gilt es zu hinterfragen, ob es auch kritische Stimmen gab und wie sich die italienische Liebermann-Rezeption mit dem Aufstieg des Faschismus und des Nationalsozialismus entwickelte.
    Von April 2023 bis September 2023
  • Opus Musaicum - ein Diptychon von audiovisuellen Installationen.
    1/ Opus Reticulatum und 2/ Opus incertum
    Kunststipendium

    Musik/Komposition (Website: https://www.claramaida.com)
    In meinem instrumentalen Schreiben habe ich kinetische Netzwerke entwickelt, die aus der Zusammenstellung kleiner beweglicher Klangeinheiten bestehen, deren Verbindungen sich ständig auflösen und neue bilden, wodurch vergängliche Aggregate, eine verformbare Textur, eine Art Klang-Kartographie im ständigen Werden entstehen. Dieses abstrakte und bewegte Mosaik ist niemals vorbestimmt. In einer Temporalität, die entweder als explodiert wahrgenommen werden kann, wenn wir versuchen, klar definierte Klangobjekte zu identifizieren, oder als kontinuierlicher Fluss, erzeugen die Prozesse und ihre polydirektionalen Flugbahnen eine permanente Neukonfiguration musikalischer Situationen, eine fragile Anordnung der Fragmente.

    In den letzten Jahren habe ich angefangen, andere Wege zu explorieren, und audiovisuelle Installationen zu machen (elektroakustische Musik, gemalte Objekte, Gemälde auf Leinwand, Videoanimation).

    Fasziniert von der Technik des Mosaiks, der Assemblage, der Collage und der Konnektivität, in meinen musikalischen Werken sowie in meinen visuellen Schöpfungen, ist das Ziel dieses Projekts die Kreation eines Diptychons von audiovisuellen Installationen, das als ein Klang- und visuell animiertes Mosaik funktionieren wird.

    Der Titel des Diptychons ist Opus Musaicum. Es besteht aus zwei Teilen, Opus reticulatum und Opus incertum. Beide Titel evozieren zwei Mosaiktechniken, die an mein musikalisches Schreiben erinnern.

    Opus reticulatum basiert auf einem retikulären Geflecht aus kleinen Fragmenten, das in den rhizomischen Klangstrukturen, die ich entwickle, mitschwingt.

    Opus incertum besteht aus der Zusammensetzung sehr kleiner Fragmente, deren Formen und Abmessungen unregelmäßig geschnitten sind, und deren Verlauf zufällig ist. Eine Art Wiederholung und Differenz entsteht (cf. Différence et Répétition, ein Buch des Philosophen Gilles Deleuze). An jeder Wiederholung wird eine geringe Modifizierung der Geste eingeführt. Diese Möglichkeit von vielfältigen Abstufungen durch dasselbe Verfahren (die Assemblage von Fragmenten, z.B.) ist auch im Herzen meines Schreibens.

    Der Titel des Projekts bildet eine Brücke zwischen der musikalischen Schöpfung und der Mosaikarbeit. Tatsächlich haben die Begriffe des „Mosaiks“ und der „Musik“ dieselbe Etymologie. Und der Begriff des „Opus“ bezeichnet die verschiedenen Techniken des Mosaiks sowie das musikalische Werk, das damals als nummeriertes Opus eingestuft war.

    Das Ziel dieser audiovisuellen Installation (elektroakustische Musik und die Projektion eines abstrakten animierten Videos) will die fragmentarische Dimension der Struktur von Venedig zurückgeben. Die Stadt wurde auf einem Mosaik von Insel und Inselchen gebaut. In dieser labyrinthischen Kartographie ist die Funktion der Kanäle quasi „synaptisch“, als ob sie den Verkehr zwischen den „Zellen“ eines urbanen Organismus fördern würden. Das strukturale Raster der künstlerischen Installation wird an den Stadtplan erinnern, mit ihren sich kreuzenden Kanälen und gebauten Oberflächen. Die animierte Dimension des projizierten Bildes wird zu einer Folge von Abstufungen der urbanen Potentialitäten, als ob die Stadt die Flugbahnen ihrer Ramifikationen modulieren könnte.

    Darüber hinaus verfügt die Stadt über zahlreiche Oberflächen der akustischen und visuellen Reflektion und Beugung. Die Spiegelungen der Gebäude im Wasser wellen sich entsprechend der Bewegung der Wellen. Das Metallteil an der Vorderseite der Gondeln hält uns einen Zerrspiegel vor. Einzigartig ist auch die akustische Qualität. Die Klänge prallen an den Wänden der Häuser in engen Gassen ab. Sie erschallen und füllen leere Räume. Die schwebenden Bootanlegestellen erzeugen ein Knirschen, in dem sich Tonfrequenzen und Rhythmen nach der Amplitude der Wirbel variieren. Venedig scheint multiplizierte Vibrationen zu erzeugen, als ob eine geisterhafte Stadt sich über die reale Stadt legen würde.

    Mein Aufenthalt in Venedig ermöglicht es mir, das Material zu sammeln, das ich für dieses bewegende Klang- und visuelle Kaleidoskop verwenden möchte. Die Aufnahme bestimmter Klänge der Stadt, die meiner musikalischen Ästhetik nahekommen, wird Material für den musikalischen Teil der Installation zur Verfügung stellen (z.B. das Kreischen von schwimmenden Bootanlegestellen oder Fensterläden, die vom Wind bewegt werden, die manchmal komplexen rhythmischen Schichtungen von Vogelschreien, die Erschütterungen von festgemachten Booten, die von der Bewegung des Wassers erzeugt werden). Eine ganze Reihe von Fotographien und kurzen Videos der Stadt wird auch für das animierte Video verwendet (Wellenreflektionen, Beugung und Abstraktion, wenn wir in die Details der reflektierten Objekte hineinzoomen).

    Der künstlerische Ansatz ist jedoch nicht narrativ, sondern besteht darin, die poetische Neuzusammensetzung eines schwebenden und beweglichen Raums vorzuschlagen, einer Struktur, die an die potenziell vergängliche Dimension jedes urbanen Raumes erinnert (und Venedig könnte tatsächlich vom Meer überschwemmt werden sowie in ihm versinken), die Fragilität und die Instabilität der Ausgleichspunkte jeder Struktur, ob lebend oder architektonisch.
    Von Juli 2023 bis September 2023
  • Kunststipendium
    Musik und Raum

    Musik/Komposition (Website https://www.gordonwilliamson.de/)
    Während meines Aufenthalts im DSZV arbeite ich an zwei Projekten: Zuerst schreibe ich ein neues Lied fertig: Das Stück Drei Drei Drei basiert auf einem Text von Kurt Schwitters und wird Ende August in Hannover durch Peter Schöne (Bariton) und Christoph Hahn (Klavier) uraufgeführt. Anlass des Konzertes ist das 30.jährige Jubiläum des Neuen Ensembles Hannover.

    Mein Hauptfokus in Venedig ist ein neues Stück für ein Saxofonoktett. Nach mehreren Erfolgen mit dem Quasar Quartett aus Montreal, Kanada, u.a. meiner Raumkomposition breathing room, habe ich einen Auftrag für ein neues Stück für das Quasar Quartett und das Stockholm Saxophone Quartet bekommen. Das neue Stück wird sich weiterhin mit dem Thema Musik und Raum beschäftigen: die Symmetrie der Besetzung wird sich auf mehrere Aspekte des Stückes beziehen: Platzierung im Raum sowie musikalische und akustische Materialien. Neben meinen ersten Skizzen für das Stück werde ich auch einen Blick auf die venezianische Tradition von Musik und Raum - von Gabrieli bis Nono - werfen. Die Architektur-Biennale wird sicherlich auch eine Inspirationsquelle für meine Arbeit sein.
    Von Juli 2023 bis September 2023
  • ‘Everyday Humanism’ and Medical Greekness in Early Modern Italy (1550-1669)
    Geschichte/University of Cambridge, Prof. Mary Laven
    Mein Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit der Präsenz von griechischen, ostchristlichen und konvertierten Heilpraktikern, Apothekern und Botanikern aus dem Osmanischen Reich und dem venezianischen Stato da Mar im Italien der Frühen Neuzeit. Ausgehend von neueren Befunden aus der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, die frühneuzeitliche Medizin als plurales, kollektives und inklusives Unterfangen neudenkt, versucht mein Projekt aufzuzeigen, dass ostmediterrane Migranten im Bereich der Alltagsmedizin und Heilkunde einen Expertenstatus erreichen konnten.

    Dabei fasst das Projekt Berufe in den Blick, die häufig von ostmediterranen Migranten ausgeübt werden konnten, wie z.B. den saltimbanchi (Straßenheiler und -medizinverkäufer), bottegai (Geschäftsbetreiber), spezialotti (Apotherkersgehilfen), aromatari (Apotheker), profumieri (Parfümmacher) und (gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts) auch caffettieri (Betreiber von Kaffeehäusern) und cioccolatieri (Schokoladenverkäufer). Die Einwohner der italienischen Halbinsel suchten häufig diese Experten auf, in der Hoffnung, durch sie an alternatives medizinisches und botanisches Wissen zu gelangen. Die medizinischen Rezepte (segreti/rimedi) dieser ostmediterranen Experten wurden dabei häufig in italienische Rezeptbücher aufgenommen, wodurch sie den Status von ‚legitimen‘ Heilmitteln erreichen konnten. Besondere Aufmerksamkeit widmet das Projekt außerdem den überlieferten Fällen von weiblichen griechischen Heilpraktikerinnen, die in Venedig, Siena und Rom die lokalen Behörden aufsuchen, um Genehmigungen und Patente für ihre medizinischen Tätigkeiten zu erlangen.

    Das Projekt fasst die kosmopolitischen Hafenstädte Venedig, Livorno, Ancona, Palermo und Neapel sowie die Inlandstädte Siena und Rom in den Blick. Zeitlich widmet sich das Projekt den Jahren 1550-1669 als Periode eines intensivierten Kulturkontaktes und zunehmender Migrationswellen infolge der osmanischen Eroberungen von Chios, Zypern und Candia.
    Von Juni 2023 bis September 2023
  • Das Buch Esther im frühneuzeitlichen Venedig. Verflechtungen eines jüdischen und christlichen Bildthemas zwischen Innovation und Traditionsbildung
    Post-doc/Fritz Thyssen Stiftung

    Kunstgeschichte
    Als über die Religionen hinweg rezipierter, in der christlichen sowie in der jüdischen Kunst dargestellter Bildgegenstand unterlag das biblische Buch Esther in der Frühen Neuzeit einer Reihe medialer und interpretativer Innovationen, die sich ab dem 17. Jahrhundert zu konstanten Bildtraditionen stabilisierten. Diese entwickelten sich im multireligiösen Zusammenhang der Republik Venedigs unter dem Einfluss zahlreicher Berührungspunkte der jüdischen und der christlichen Rezeption des Esther-Stoffes, welche durch Überschneidungen exegetischer Traditionen, zirkulierende Bilder und die wechselseitige Wahrnehmung von Literatur, Theater und religiösem Brauchtum zustande kamen.

    Ungeachtet der interreligiös verflochtenen Rezeption des Buches Esther war die theologische Einschätzung des biblischen Textes in beiden Religionen höchst unterschiedlich. In der jüdischen Tradition galt das Buch Esther als liturgischer Text, der während des Purimfests rituell verlesen wurde und als Diaspora-Erzählung gegenwartsbezogene Bedeutung erlangte: Die aus dem iberischen Raum vertriebenen, zwangskonvertierten Juden, welche ab 1589 als Teil der Natione Ponentina ein Aufenthaltsrecht in Venedig erhielten, fanden in der Figur der Esther ein messianisch auslegbares Lebensmodell. In der christlichen Kunst Venedigs stellten die Hinwendung zu Esther und die mit ihr verbundenen typologisch-mariologischen Auslegungen vor dem Hintergrund der im Jahre 1542 in Venedig eingeführten Inquisition eine Abgrenzungsmöglichkeit innerhalb der Konfessionsbildung dar, welche durch den Beschluss des Konzils von Trient im April 1546, das bislang als apokryph geltende Buch samt den griechischen Zusätzen der Septuaginta in den biblischen Kanon aufzunehmen, bestärkt wurde.

    Trotz Kanonisierung und gewachsener kultureller Bedeutung existierten in beiden Religionen nachhaltige theologische Vorbehalte gegenüber der biblischen Erzählung, die auf einen gemeinsamen Grund, die Nicht-Erwähnung des Namens Gottes, zurückgingen. Der theologisch ambivalente Charakter des Buches Esther hatte schließlich verschiedene Auswirkungen auf die sich ab dem 16. Jahrhundert entwickelnden frühneuzeitlichen Bildtraditionen: Gemeinsam mit dem allgemein erwachten Interesse an Bildthemen des Alten Testamentes eröffnete er in der christlichen Kunst Möglichkeiten, den Stoff vom biblischen Kontext zu lösen, seine Bezüge auf profane Deutungsinhalte auszuweiten und den traditionellen mariologischen und allegorischen Lesarten neu in den Vordergrund drängende Bildsujets, wie die ab dem 17. Jahrhundert immer stärker erotisierte „Ohnmacht Esthers“, an die Seite zu stellen. In der jüdischen Kunst erlaubte das Fehlen des Gottesnamens eine großzügige Haltung gegenüber Bildern, so dass ab dem späten 16. Jahrhundert dekorierte und illustrierte Esther-Rollen, welche für den privaten Gebrauch geschaffen wurden, von den rabbinischen Autoritäten gebilligt wurden. Als ein weiteres Abrücken von religionsgesetzlichen Regulierungen kann auch die mediale Neuerung der druckgraphisch dekorierten Esther-Rolle verstanden werden, welche Kollaborationen zwischen jüdischen und christlichen Künstlern mit sich brachte. Das Projekt möchte Verflechtungen der Bildtraditionen beider Religionen darlegen, darüberhinaus die in der jüdischen und christlichen Kunst geteilten Aneignungswege des Esther-Stoffes sowie die sich aus dem jeweiligen religiös-kulturellen Kontext ergebenden Auswirkungen auf künstlerische Entwicklungen.
    Von Januar 2023 bis Dezember 2023
  • Die Aufenthalte von Marquard Gude (1635-1689) in Venetien:
    Bibliotheken, Handschriften und Gelehrten-Netzwerke
    Postdoc

    Mittelalterliche Geschichte, Paläographie/Kodikologie
    Im Verlaufe seines Lebens hat der Philologe und Gelehrte Marquard Gude mit großem Eifer, intensiver Reisetätigkeit und erheblichem finanziellen Aufwand eine monumentale Sammlung lateinischer und griechischer Codices des Mittelalters und der Renaissance erworben. Besonders wichtig für die Rekonstruktion der frühen Konstituierung der Bibliothek Marquard Gudes sind seine Reisen nach Brabant, Flandern, Frankreich und Italien, später auch durch Deutschland. Während der Zeit in Italien erwarb Gude Handschriften und Inkunabeln, u. a. in Padua und Venedig. Aus Venedig stammen auch einige Inkunabeln, die später von der herzoglichen Bibliothek in Weimar gekauft wurden. In Italien hatte Gude sonst kirchliche und öffentliche Bibliotheken besucht, Handschriften kollationiert und Kontakte mit lokalen Wissenschaftlern gepflegt. Der Forschungsaufenthalt am Deutschen Studienzentrum in Venedig hat das das Ziel, zum einen den historischen Rahmen und das Netzwerk der Beziehungen Gudes in Venetien zu rekonstruieren, zum anderen die Bestände, die Gude eingesehen bzw. kollationiert hat, besonders in der Biblioteca Marciana, zu identifizieren und genauer zu analysieren.
    Von Juli 2023 bis September 2023
  • Scomparso? Spuren karmelitischer Predigttätigkeit in Venedig
    Postdoc

    Geschichte (Mittelalter)
    Predigten sind die mit Abstand größte Quellengruppe des Mittelalters – ebenso umfangreich wie in ihrer Aussagekraft unterschätzt. Forschungen zur Predigtkultur der Bettelorden haben sich bisher vornehmlich auf die Großorden der Franziskaner und Dominikaner konzentriert. Außen vor blieben die Karmeliter. Bis vor wenigen Jahrzehnten war überhaupt nur eine einzige Karmeliterpredigt aus dem Mittelalter bekannt. Dass dies die Überlieferungswirklichkeit nicht korrekt widerspiegeln kann, dürfte angesichts eines Ordens, dessen Daseinszweck im Predigen bestand, offensichtlich sein. Inzwischen haben sich weitere Predigten gefunden und was sie auszeichnet, ist ihr starker Bezug zur zeitgenössischen Lebenswirklichkeit. Im europäischen Predigtkonzert waren die Karmeliter die Zu-Spät-Gekommenen. Aus dem Heiligen Land vertrieben, mussten sie sich mit Hilfe des Papsttums in Europa zunächst eine neue Existenz schaffen. Aus Eremiten wurden Bettelmönche. Im Medium der Predigt reflektierten Karmeliter ihre eigene Migrationsgeschichte, die sie seit den 1230er Jahren vom Heiligen Land nach Europa geführt hatte und beleuchteten die Schwierigkeiten, die mit dem Prozess der Integration in bestehende institutionelle Strukturen verbunden waren. Angesprochen wurde so immer wieder auch die Suche nach der eigenen Identität, in der eremitische Ideale des Ostens mit mendikantischen Vorgaben des Westens in Übereinstimmung gebracht werden mussten.
    In Venedig waren die Karmeliter seit 1285 präsent. Sie verfügten mit S. Maria dei Carmini in Dorsoduro über einen repräsentativen Konvent. Dort blieben sie bis 1810, als im Zuge der napoleonischen Repressionen ihre Existenz zu einem erzwungenen Ende kam.
    Erforscht werden soll zum einen das Schicksal der Klosterbibliothek, deren wertvollste Stücke in ein zentrales Buchdepot nach Padua verbracht und von dort aus weiter verteilt wurden. Identifiziert werden sollen zum anderen aber auch bisher unbekannte Predigthandschriften der venezianischen Karmeliter.
    Predigtforschung dient aber nicht nur allein der Identifizierung bisher unbekannter Texte, deren Edition und somit der Erweiterung der Quellenbasis, sondern strahlt auch auf andere Bereiche aus: Sermones öffnen den Blick auf unterschiedliche, dem jeweiligen (pastoralen) Kontext geschuldete Wissenskulturen. Verarbeitet wird in den Predigten nämlich nicht nur ein orthodoxes Ideal, sondern die heterodoxe Realität in der spätmittelalterlichen Stadt. Insofern sind Sermones stets auch als wichtiger Beitrag zur Sozial-, Wirtschafts- und Institutionengeschichte des Mittelalters zu verstehen.
    Von August 2023 bis Oktober 2023
  • Tacitus als Verhaltenskompass bei Hofe: Nicolò Minatos Elio-Seiano-Libretti (1667)
    Postdoc

    Musikwissenschaft
    Nicolò Minato ist in der Opernforschung als außerordentlich produktiver Autor von Libretti für Opern und Oratorien bekannt. Seine Schaffenszeit umfasst den Zeitraum zwischen 1650 und 1668, in dem er in Venedig tätig war und mit Komponisten wie Francesco Cavalli, Antonio Sartorio und Giovanni Legrenzi zusammenarbeitete, sowie den Zeitraum zwischen 1669 und 1698, in dem er das Amt des Hofpoeten am kaiserlichen Hof in Wien bekleidete. Bevor er sich jedoch dem Musiktheater zuwandte, veröffentlichte er 1645 in Venedig ein Traktat unter dem Titel Eruditioni per li cortigani („Weisheiten für Höflinge“), eine gelehrte Abhandlung über höfisches Verhalten, die in vierzig Kapiteln einige der beliebtesten Probleme der zeitgenössischen Diskussion zum Thema behandelt. Dabei stützt er sich auf Episoden aus dem Werk von Schriftstellern wie Seneca, Sueton, Plutarch, Appian und vor allem den Annalen des Tacitus. Die Abhandlung ist nicht nur wegen ihrer einzigartigen Tradition wichtig, die sie in eine europäische Perspektive stellt (Minato basiert seine Erörterung unter anderem auf Werken von Eustache de Refuge und Girolamo Canini D’Anghiari, rezipiert über seine Lektüre von Eusebius Meisner), sondern auch, weil sie einer in der Literatur des 17. Jahrhunderts häufig besprochenen Figur großen Platz einräumt, Lucius Aelius Seianus. Wie Tacitus in den Büchern IV und V der Annalen beschreibt, wurde Aelius Seianus von Kaiser Tiberius in die höchsten Ämter des Reiches erhoben. Die Eruditioni widmen Seianus, der durch übertriebenen Ehrgeiz beim Kaiser, der ihn begünstigt hatte, in Ungnade fiel, zahlreiche Passagen und ein ganzes Kapitel. Zweifellos bediente sich Minato bei den Eruditioni, als er 1667 für das Teatro di San Salvatore in Venedig ein Zwillingsdrama über das Sujet schuf, also einen für zwei Abende bestimmten dramatischen Zweiteiler, mit den Titeln La prosperità di Elio Seiano („Der Aufstieg des Aelius Seianus“) und La caduta di Elio Seiano („Der Fall des Aelius Seianus“). Der Komponist, mit dem Minato hierbei zusammenarbeitete, der Hannoversche Kapellmeister Antonio Sartorio, nutzte die Oper in der deutlichen Absicht, das Haus Hannover zu verherrlichen, was schon an der Widmung an Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg und seine Schwester Sophie Amalia von Dänemark zu erkennen ist.

    Erklärte Grundlage des Librettos ist Tacitus, also die höchste Autorität auf dem Gebiet der politischen Philosophie des 17. Jahrhunderts, dessen Schriften von einer großen Zahl von Intellektuellen und Gelehrten übersetzt und kommentiert wurde. Sie bildeten gleichsam das tägliche Brot der venezianischen Akademien, der „Incogniti“, „Discordanti“ und „Imperfetti“, deren letzterer Minato selbst angehörte. In der Geschichte des kaiserlichen Roms, wie sie die Annalen überliefern, können wir eine deutliche Allegorie der Korruption an Fürstenhöfen lesen (man denke nur an die Krönung der Poppea des „Incognito“-Mitglieds Busenello); und wenn es stimmt, dass der kaiserliche Palast das Beispiel par excellence innerer Rivalitäten bildete, erhält das Studium der Taten der Großen – selbst der unsäglichsten unter ihnen – eine bestimmte, machiavellistisch-didaktische Absicht: Das Alte wird nicht nur als negatives und kontrastierendes Beispiel angesehen, sondern in erster Linie als analoger Vergleich zur Beschreibung der zeitgenössischen Realität. Tacitus’ Lehre wird so gleichsam zu einem Verhaltenskompass, einem Führer zum Leben und Überleben bei Hofe.

    Die Popularität der Prosperità di Elio Seiano, eines der am meisten aufgeführten Werke Sartorios, wird durch die zahlreichen Wiederaufnahmen dokumentiert. Minatos Zweiteiler liefert ein komplexes und sehr interessantes Zeugnis für die Untersuchung der Rezeption tazitistischer Materie im Kontext des Operntheaters, dessen Motive mit freizügigen Inspirationen verflochten sind, vor allem mit der in der libertinen Tradition stehenden literarischen Produktion der „Incogniti“-Mitglieder). Das eingehende Studium der beiden Stücke um Aelius Seianus und die von mir vorgeschlagene kritische Edition der jeweiligen dramatischen Texte würde aus interdisziplinärer Perspektive (das Thema betrifft gleichermaßen Geschichte, Literaturwissenschaft, Musik- und Theaterwissenschaft sowie Kunstwissenschaft) bemerkenswerte Aspekte ans Licht bringen zur Bedeutung der Botschaft des römischen Historikers in den goldenen Jahren der Popularisierung der Oper in Venedig und darüber hinaus: also Erkenntnisse zur Verbreitung der italienischen Oper an europäischen Höfen.

    Das Ziel des Projekts ist die Vorbereitung der kritischen Ausgabe der beiden Libretti zu Elio Seiano, begleitet von einer umfänglichen Einführung, die darauf abzielt, das Werk zu kontextualisieren und gleichzeitig das Studium zeitgenössischer Abhandlungen und freigeistiger Literatur (alias „Incogniti“-Literatur) zu würdigen. In der Einführung werden der generative Kontext der „Zwillingswerke“, die historisch-literarischen Vorläufer, die Struktur der Stücke und die verwendeten dramaturgischen Konventionen erläutert.
    Von September 2023 bis November 2023

Personen/zukünftige Projekte

  • Die Architektur der Cappella Emiliana

    Dissertation Projekt
    Von März 2024 bis August 2024
  • Von Dezember 2023 bis Februar 2024
  • Marco Boschinis "La Carta del navegar pitoresco". Übersetzung, wissenschaftlicher Kommentar, Analyse
    Februar 2024
  • Europa als Vorbild? Die Geschichte des nachhaltigen Tourismus am Mittelmeer 1970-2019
    Von April 2024 bis August 2024
  • „Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung venezianischer Frauen, 1580 bis 1620“
    Dissertationsprojekt
    Von Dezember 2023 bis Februar 2024
  • Transitionen Alter Vokalmusik durch italienische Komponist*innen ab 1950

    Postdoc
    Von Oktober 2023 bis November 2023
  • Von Mai 2024 bis Oktober 2024
  • Kunststipendium
    Von Oktober 2023 bis Dezember 2023
  • Die Geburt des literarischen Handlungsballetts in Italien (1760-1820) Postdoc
    Von Juni 2024 bis August 2024
  • Post-Doc
    Von Dezember 2023 bis Januar 2024
  • Zur Privatbibliothek Luigi Nonos - Zwischen Annotation und Komposition
    Justus-Liebig-Universität, Gießen, Matteo Nanni, Schönberg-Gesamtausgabe, Berlin, Hella Melkert
    März 2024
  • Beteiligung deutschsprachiger Akteur:innen am Kulturgütertransfer aus Venedig (1937-1945)
    Von April 2024 bis Mai 2024
  • Die Gemäldesammlungen des Karl Roner von Ehrenwerth und der ausländischen Eliten im habsburgischen Venedig

    Postdoc
    Von Oktober 2023 bis März 2024
  • Komponisten analysieren. Studien zur musikalischen Analyse im Kontext der europäischen Nachkriegsavantgarde
    Dissertationsprojekt
    Oktober 2023
  • Tacitus als Verhaltenskompass bei Hofe: Nicolò Minatos Elio-Seiano-Libretti (1667)
    Postdoc
    Von September 2023 bis November 2023
  • Kunststipendium
    Von Oktober 2023 bis Dezember 2023
  • "Drei Kompilatoren des Chronicon maius und ihre Spuren in Venedig: Manuel Glynzunios, Ioannes Hagiomauras und Polychronios Pulischares"

    Postdoc
    Von November 2023 bis April 2024
  • März 2024

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