Deutsches Studienzentrum in Venedig

Sophie Schmidt

Sophie Schmidt

Prothesen als künstlerische Weitungen – Ein Fühler für konkretes Fühlen
Kunststipendium

Bildende Kunst

In meiner künstlerischen Arbeit gehe ich vom Körper aus, einem Körper, der sich öffnet und verbindet. Dabei spielt die Prothese als Körperweitung eine zentrale Rolle. Ich baue Prothesen, Körperweitungen und Transformationsmaschinen und verbinde sie mit Malerei, Zeichnung und Text. In all diesen Medien entstehen hybride, prothetische Körper.
Die prothetische Erweiterung des Körpers über die Grenzen seiner Haut hinaus bedeutet für mich immer eine Verwicklung, Verbindung und Einfühlung im Sinne von Körperweitung. Ich spreche dabei bewusst von Körperweitung anstelle von Körpererweiterung, um mit dem Leistungsvorhaben von üblichen Prothesen zu brechen. Dementsprechend sind meine Prothesen keine technologischen Produkte, sondern utopische Gebilde. Sie unterlaufen, als imaginative Kraft, den Vorrang des Kopfes gegenüber dem Bauch und bedingen somit eine Befreiung aus Korsett und Konzept Mensch. Nötig ist eine Neukombinatorik des Körpers, um sich mit der Welt neu zu verflechten und die Trennung von Denken und Fühlen und weiteren Dualismen zu überwinden. Die Neukombinatorik des Körpers mündet deshalb auch nicht in Erweiterungen, sondern in Weitungen.
Ich strebe mit meinen Prothesen und durch diese Neukombinatorik des Körpers ein anderes In-der-Welt-Sein und eine neue Körperhaltung an. Denn die Körperhaltung, und die Festlegung darauf, ist ja auch eine Haltung zur Welt. Bei uns heißt das: Kopf oben, Bauch unten. Beim Vampyroteuthis infernalis, dem Vampirtintenfisch, von dem Vilém Flusser schreibt, ist die Haltung polar zu unserer: Bauch oben, Kopf unten. Das ändert viel.
Die abendländische Sicht konstruiert den Körper als ein von der Seele getrenntes Ding, über das nach Belieben verfügt werden kann. Das schreibt sich auch in die Prothese ein und mit ihr fort. Die Prothese und ihre Technik produzieren einen Körper, der sich von seiner Umwelt und Mitwelt trennt. Dies führt zu den geläufigen Dualismen wie Leib/Seele, Subjekt/Objekt, Kultur/Natur, Mensch/Tier, Mann/Frau, und den damit verbundenen Hierarchien. Als rationales Fortschrittswesen werten wir weniger rationale Körper ab. Einen Fühler, der tastend und durch Nähe seine Umwelt begreift, bewerten wir weniger fortschrittlich als ein Auge, das aus Distanz erkennt.
Da die Prothese einem Mangel abhelfen soll, stellt sich die Frage nach der speziellen Art des Mangels. Brauchen wir die Prothese speziell für Optimierungen? Liegt der Mangel nicht eher in fehlendem sozialem Miteinander?
Meine Prothesen sind ein Gegenentwurf zum Optimierungsmodell. Meine Mückengymnastik ist keine Kraftgymnastik, sie führt zu einem Kleinwerden, einem Zartwerden, einem Zerbrechlichwerden, einem Verletzlichwerden. Meine Prothesen stolpern, verlangsamen und verkomplizieren. Sie sind freundlich, aber auch widerständig. Sie zerstören, lachen, schreien, weinen und scheitern. Sie sind zart, klein, hilflos, dann auch wieder groß und gewaltig.
Und, sie präferieren einen Fühler für ein Auge.

Von Januar 2021 bis März 2021